Sie war die erste Regisseurin der Welt. Sie drehte über 1000 Filme. Sie war Produzentin, Drehbuchautorin und hatte über 20 Jahre ihre eigene Produktionsfirma in den USA. Trotzdem ist Alice Guy-Blaché weitgehend in Vergessenheit geraten.
Zum Glück ist die Regisseurin und Drehbuchautorin Pamela B. Green in einer Reportage über frühe Filmpioniere auf Alice Guy-Blaché aufmerksam geworden! Erstaunt darüber, dass sie noch nie von ihr gehört hatte, fragte sie in ihrem Kreis von Kolleginnen und Kollegen nach. Sie alle, unter ihnen Schauspielerinnen und Schauspieler wie Julie Delpy und Sir Ben Kingsley, hatten noch nie von Alice Guy-Blaché gehört. Sogar Geena Davis vom Geena Davis Institute on Gender in Media, das in den USA Forschungen zur Geschlechtergerechtigkeit in der Filmbranche betreibt, kannte sie nicht. Pamela B. Green fand das empörend. Es war ihr ein dringendes Bedürfnis, Alice Guy-Blachét, der einflussreichsten Frau im Filmgeschäft um 1900, endlich die Anerkennung zu verschaffen, die sie verdient. So entstand 2019 „Be Natural“, mit Jodie Foster als Sprecherin und – zusammen mit Robert Redford – Produzentin.
Sie wohnte der Geburtsstunde des Kinos bei
Geboren wurde Alice Guy 1873 nahe Paris als fünftes Kind von Eltern, die in Chile eine Buchhandelskette betrieben. Seit 1894 arbeitete sie für Léon Gaumont, zunächst als Sekretärin. Er hatte eine Firma für die Herstellung und den Vertrieb photographischer Apparate in Paris. Mit ihm erlebte sie am 22. März 1895 die erste interne Vorführung des Kinematographen der Gebrüder Lumière – ein Erlebnis, das ihr Leben prägen sollte. Schon ein Jahr später präsentierte Gaumont den ersten Filmprojektor seiner Firma.
Alice Guy-Blaché drehte den ersten Spielfilm
Gefilmt wurden anfangs Orte rund um den Globus und Alltagssituationen. Da schlug Alice ihrem Chef vor, selbst ein paar Szenen zu drehen. „Ja, das ist etwas für junge Frauen“, war Gaumonts Antwort, „probieren Sie es, aber die Arbeit darf nicht darunter leiden.“ In einem Interview von 1964, das in „Be Natural“ abschnittsweise eingeblendet wird, erklärt sie: „Es gab damals keine Drehbücher. Ich erfand einfach kurze Geschichten“.
Und so drehte sie mit Freunden auf Gaumonts Terrasse „La Fée aux Chox“. Gezeigt wird eine Blumenfee, die aus den Kohlköpfen eines Gartens Babys hervorzaubert und diese auf die Erde legt. Dieser Film von 1896 gilt heute als der weltweit erste fiktionale Film. Obgleich nur eine Minute lang, ist er damit 1896 einer der längsten. Er wurde begeistert aufgenommen.
Ihre Filmthemen sind noch immer aktuell
1897 wurde Alice die künstlerische Leiterin des Unternehmens. Und sie war die Regisseurin fast aller bei Gaumont produzierten Filme.
Ob Nahaufnahmen, Doppelbelichtung, Handkolorierung oder synchron laufender Ton – sie war Pionierin auf vielen Gebieten. Sie drehte Liebeskomödien und Verfolgungsjagden, thematisierte die Rolle der Frau, Elternschaft, Kindesmissbrauch und Antisemitismus. Der Schauspieler und Drehbuchautor Alan Williams sieht in ihr die erste Komödiantin. In Be Natural äußert er: „Ihre Filme haben ein perfektes Timing für Komik.“
1900 erhielt sie ihre erste Auszeichnung, zahlreiche sollten folgen, unter ihnen 1957 die Französischen Ehrenlegion. Bis sie 1907 mit ihrem Mann Herbert Blaché-Bolten in die USA ging, drehte sie mehrere hundert Filme für Gaumont.
Dem Zeitgeist der USA weit voraus: eine Filmbesetzung mit Afroamerikanern
Obgleich Alice 1908 ihre Tochter Simone zur Welt brachte, kaufte sie ein kleines Studio in Flushing/Long Island, um dort Tonfilme zu drehen. Daraus ging die Produktionsfirma Solax hervor. Die Firma zog 1912 nach Fort Lee/New Jersey um, dem damaligen Hollywood. Nach eigenen Aussagen hat sie über das ganze Studio verteilt Schilder für die Schauspieler aufgehängt, auf denen stand „Be natural“, also: Sei natürlich, sei du selbst. Tatsächlich wirkten ihre Charaktere sehr ungekünstelt und glaubhaft.
Sie drehte Cowboyfilme, herzzerreißende Tragödien und zahlreiche Komödien. Mit der Besetzung von „A Fool and His Money“ war sie 1912 ihrer Zeit weit voraus: Da sich weiße Schauspieler und Schauspielerinnen weigerten, zusammen mit einem Afroamerikaner vor der Kamera zu stehen, besetzte sie den Film kurzerhand ausschließlich mit Afroamerikanern.
Ein Neuanfang in Frankreich gelang Alice Guy-Blanché nicht
Der Erste Weltkrieg mit seinen Veränderungen für die Filmindustrie, der Rückzug Gaumonts, der lange Zeit an Solax beteiligt war, und hohe Spekulationsverluste Herbert Blachés führten schließlich zum Untergang der Firma. Nach ihrer Scheidung kehrte sie zusammen mit den beiden Kindern nach Frankreich zurück. Mit inzwischen 49 Jahren und beinahe mittellos gelang es ihr hier nicht mehr, im Filmgeschäft Fuß zu fassen. Auch Bittschreiben an Léon Gaumont blieben ohne Erfolg. Sie behalf sich mit Vorträgen über Film und Regie und Filmbesprechungen.
Ihre Pionierleistungen blieben auch deshalb so lange unerkannt, da Filmhistoriker schon zu ihren Lebzeiten ihre Filme männlichen Kollegen zuordneten. Auch in Gaumonts Firmengeschichte blieb Alice Guy-Blaché über Jahrzehnte unerwähnt, für ihre Autobiografie fand sich erst 1981 einen Verleger, lange nach ihrem Tod 1968.
Be Natural liefert eine immense Fülle an Informationen über Alice Guy-Blaché
Pamela B. Green und ihren jahrelangen Recherchen für „Be Natural“ ist es zu verdanken, dass inzwischen immer mehr von Alice Guy-Blachés verschollenen Filmen aufgespürt werden konnten.
Sie blendet sie in ihrer Dokumentation ein. Es wäre schön gewesen, länger bei ihnen zu verweilen. Überhaupt ist diese Dokumentation eine wahre Fundgrube an Informationen, nicht nur über Alice Guy-Blaché und ihre Filme, sondern darüber hinaus über die Entstehung und Entwicklungsgeschichte des Films. Die einmontierten Filmszenen aus Alices Filmen ins heutige Straßenbild sind eine witzige Idee und die Einblendungen von Interviewsequenzen mit Alice Guy-Blaché sehr berührend. Die nur kurz angerissenen Stellungnahmen zahlreicher Filmschaffender, die Animationen sämtlicher Rechercheschritte der Filmcrew, das Tempo der Kamerafahrten und die ambitionierte Schnittrate machen den Film allerdings zu einer echten Herausforderung für die Aufnahmefähikeit der Zuschauenden. Dennoch hat er inzwischen völlig zu Recht mehrere Auszeichnungen bekommen. Um den trotz seines Tempos sehr gelungenen Film in seiner ganzen Fülle erfassen zu können, lohnt es sich, ihn mehrmals anzusehen.
Das Lichtspielhaus in Fürstenfeldbruck zeigt den Film zum Internationalen Frauentag am 8. März 2022 um 16:15 Uhr.
Am 8. März kommt der Film ins Lichtspielhaus FFB