Ü80 – sieben Künstlerleben

 

 

Die Künstler*innen und Rednerinnen bei der Eröffnung
Künstlerleben, Kriegserleben, Lebensfreude – es gibt mehreres, das die Ü80-Geburtstagskinder der Künstlervereinigung Fürstenfeldbruck verbindet. Am Freitagabend durfte ich bei der Eröffnung einer Ausstellung ihrer Werke im Haus 10 die Laudatio halten.

Die Ausstellung beginnt mit der größtmöglichen Farbigkeit von Ingryda Suokaites Schnurbildern und spannt einen Bogen zu Renate Martins ausschließlich in Schwarz-Weiß gehaltenen Bildern im letzten Raum der Ausstellung.

Ingryda Suokaite

Es war ihr Kunstlehrer am Litauischen Gymnasium, der Ingryda Suokaites Gespür für Farben entdeckte und ihr Talent entschieden förderte. Mit 20 Jahren begann sie, Malerei und Grafikdesign zu studieren. Zunächst an der Freien Kunstschule Stuttgart bei Prof. Gerd Neisser, ab 1964 ein paar Jahre an der Akademie der Bildenden Künste in München.

Schließlich war es ihre Tätigkeit als Werklehrerin, die sie zu der für sie typischen Kunst führte: Ihre Schnurtechnik wurde letztendlich – so Ingryda wörtlich – im Werkraum geboren, auf der Suche nach einem geeigneten Material für ihre Schülerinnen und Schüler. Bereits in den 1980er-Jahren entstanden erste Bilder in dieser Technik, mit der Ingryda eine gewisse Dreidimensionalität in ihre Bilder bringt. Farben und Formen ergänzen sich, sie scheinen miteinander zu spielen und ermöglichen unendliche Variationsmöglichkeiten. Man spürt in Ingryda Suokaites Werken ihre Freude am Experimentieren mit Form und Farbe.

Ingryda Suokaite: Einsames Weiß, 2019

„Einsames Weiß“ ist ein quadratisches Bild, bei dem die Blautöne dominieren. Es ist Teil einer Serie, zu der drei weitere Bilder gehören, bei denen einmal Grau, Rot und Grün eine Art strukturierendenen Rahmen bilden und so die geschwungenen Schnurlinien und Flächen im Inneren zu einem Bild im Bild werden lassen.

 Petra Bergner

Petra Bergners Familie lebt seit 1954 auf einem weitläufigen Gelände in der Buchenau. Hier hatte schon ihre Mutter Hildegard Mössel ein großzügiges Atelier, das noch heute als eines der schönsten im Landkreis gilt. Petra Bergner und ihre Geschwister wuchsen wie selbstverständlich mit Kunst auf. Sie studierte Grafik und Design in München und war schon mit 22 Jahren für verschiedene Verlage als freie Mitarbeiterin tätig.

Petra Bergner: Tanz, 2001

Neben dem Aquarellieren bildeten seit 1975 die Radierung und die Lithografie ihre Arbeitsschwerpunkte. Konsequenterweise finden sich deshalb in der aktuellen Ausstellung viele Drucke. Sie mag es, wenn es schnell geht. Wie schnell sie sein kann, zeigt ihr Aquarell „Tanz“, in dem sie die anmutige Bewegung der Tänzerin in nur fünf Minuten schnell und gekonnt festgehalten hat.

Und noch etwas zeichnet Petra Bergner aus: Ihre Fähigkeit, Stimmungen festzuhalten. Stimmungen des Lichts in ihren Landschaftsaquarellen, aber auch Stimmungen von Situationen. Sie selbst sagt, dass sie nur Dinge mache, die sie berühren. Und das ist es wohl, was ihre Werke so authentisch wirken lässt.

 

Henriette Hense

Mit 19 Jahren kam Henriette Hense aus dem mittelfränkischen Wassertrüdigen nach München, wo sie Unterricht an der Schwabinger Mal- und Zeichenschule „Die Form“ nahm. Ihr künstlerisches Talent hatte ihr wohl der Vater vererbt, der Bildhauer war.
Ab 1965 ging sie an die Meisterschule für Mode, um dort in der grafischen Abteilung noch intensiver zeichnen zu lernen.

Henriette Hense: Wie bei Frau Holle, 2017

Die Federzeichnungen machen die Akribie ihrer Arbeiten sichtbar. So wirkt „Wie bei Frau Holle“ aus einer gewissen Entfernung beinahe wie eine Fotografie. Erst unmittelbar vor dem Bild erkennt man, dass es aus unzählbar vielen Federstrichen besteht. Und jeder dieser Striche sitzt: Faltenwurf, Licht und Schatten sowie die Muster auf diesen aufgeplusterten Bettenwolken sind perfekt. – Und dass statt Frau Holle mit weißer Betthaube, wie man sie von zahlreichen Märchenbuch-Illustrationen her kennt, eine schwarze Katze mit leuchtenden Augen sozusagen als „Herrin der Betten“ aus dem Fenster blickt, verleiht dem Bild auch noch eine witzige Note.

Helga Coning

Helga Coning stammt aus Schleswig-Hostein. Schon ihr Großvater und ihre Mutter waren künstlerisch tätig und wirkten inspirierend auf sie. Sie wurde ab 1955 zur technischen Zeichnerin ausgebildet. Neben diesem Brotberuf schulte sie in zahlreichen Kursen ihre künstlerischen Fertigkeiten.
Am prägendsten waren für sie Thomas Links Bildhauerkurse im Kloster Fürstenfeldbruck. Durch ihn verlegte sie ab 1994 ihren künstlerischen Schwerpunkt auf die Bildhauerei. Eine weitere Zäsur war 2005 der Einstieg in den Bronzeguss.

„Das Innen bestimmt das Außen“ ist Helga Conings Motto. Neben der allgemeingültigen Bedeutung betrifft dieser Satz für eine Bildhauerin auch den schöpferischen Akt. Denn hier geht es darum, das, was in einem Stein, einem Holz oder einem anderen Material verborgen liegt, he-raus zu arbeiten, es nach außen sichtbar zu machen.

Helga Coning: Apokalypse II, 2005/2006

Unter den ausgestellten Arbeiten ist die siebenteilige „Apokalypse II“ von 2005/06 die zentrale: Sie zeigt eine noch intakte Welt und ihre Zerstörung. Auch auf diese Arbeit passt Helga Conings Motto: Bei der ersten Skulptur ist die innere Welt intakt, entsprechend rund, harmonisch und vollkommen ist ihre äußere Form, die Kugel. In diese Vollkommenheit dringt von außen etwas Zerstörendes ein. Erst hinterlässt es einen Krater, dann beginnt es im Inneren zu brodeln und die so freigesetzten Kräfte bewirken eine völlige Veränderung. Lediglich das zerstörende Eingedrungene behält seine Form, da sich dessen zerstörendes Inneres ja nicht verändert hat.

Gerhard Gerstberger

Er ist ein Tausendsassa, der 1941 in der Tschechoslowakei zur Welt am. Gerhard Gerstberger war gerade einmal 15 Jahre alt, als er 1955 anfing, – mit Sondergenehmigung – in München Kunst und Grafik-Design zu studieren. Danach erweiterte er sein Repertoire in zahlreichen Fortbildungen.

Sein umfassendes Werk beinhaltet die verschiedensten Bereiche: Neben Malerei, unterschiedlichen Drucktechniken und Fotografie fertigt er Skulpturen an, die man aus dem öffentlichen Raum im Landkreis Fürstenfeldbruck kennt. Seine Freude am Experimentieren und am Spiel mit den technischen Möglichkeiten lebt er aus, indem er kinetische und Lichtkunstobjekte schafft.

Gerhard Gerstberger: Hoffnung für Europa, 2001

Natur, Soziales und Völkerverbindung sind ihm äußerst wichtig. In der aktuellen Ausstellung wird dies in seinen surrealistischen Bildern sichtbar. So ist beispielsweise „Hoffnung für Europa“ von 2001 vielschichtig: Auf dem zerfließenden Wappen mit Bundesadler sitzt der Pleitegeier – vielleicht ist das eine Anspielung auf die seinerzeit bevorstehende Währungsreform? Auch das britische Wappen löst sich auf. Doch das Zerfließen der einzelnen Wappen deutet auch Hoffnung an: Nun kann etwas Neues, Gemeinsames entstehen. Auch der symbolträchtige Regenbogen spricht dafür. Und der wegfallende Schlagbaum scheint dem grasenden Elch neue Freiheiten zu versprechen.

 

Hans Fuchs

Geboren wurde er nahe Landshut. Schon mit etwa 14 Jahren begann er zu malen und zu zeichnen. „Das kam so aus mir raus“, sagt er dazu. Und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass er noch während seiner Ausbildung bei der Deutschen Bahn ab 1959 an der Fernakademie Karlsruhe Zeichnung und Malerei studierte. Als er ab 1962 eine Umschulung zum Tiefdruckretuscheur absolvierte, kamen ihm sein feines Gespür für Farbnuancen zu Gute.

Er bildete sich mehrere Semester bei Rolf Cavael fort, einem der bedeutendsten Vertreter der ungegenständlichen Malerei in Deutschland.
Hans Fuchs dreht Kandinskys Satz „vom Geistigen in der Kunst“ um in „Die Kunst ist das Geistige“. Damit setzt er die Kunst an sich absolut, sieht sie unabhängig vom Gegenständlichen und Gedanklichen. Ihr Ausgangspunkt sind Farbe, Linie, Fläche, Form und Struktur.

Hans Fuchs: Ohne Titel, 2022

Er malt überwiegend mit Acrylfarben. Da ihm diese pur zu farbintensiv sind, tönt er sie zumeist mit Marmormehl ab. Und weil die Farben dadurch beim Trocknen oft stumpf werden, benötigt er mehrere Schichten, um die gewünschte Farbnuance zu erzielen. Schon alleine dadurch entwickelt ein Bild seine ganz eigene Flächigkeit und Kraft.

Hans Fuchs Credo lautet: Man muss ein Bild er-sehen, man kann es nicht in Worten ausdrücken, auch wenn es einen Gedanken oder ein Thema beinhaltet. Es ist das, was man darin sieht. Damit gibt er dem Betrachter die größtmögliche Freiheit für die Rezeption.

Renate Martin

Mit Jahrgang 1931 ist sie das älteste der Geburtstagskinder. Und leider ist Frau Renate Martin am 1. Januar dieses Jahres verstorben. Die Geburtstagsausstellung ist für sie somit auch zur Gedächtnisausstellung geworden.

Geboren in Königsberg, erlebte sie nach Kriegsende bei der Vertreibung den Tod ihrer Eltern hautnah mit und kam mit gerade einmal 15 Jahren alleine in Berlin an. Der Malerei konnte sie sich als alleinerziehende Mutter erst intensiv zuwenden, als ihre beiden Söhne aus dem Gröbsten heraus waren.
In einer ersten, autodidaktischen Phase entstanden Porträts von türkischen Gastarbeitern bis hin zu Punks sowie farbintensive, teils psychedelisch wirkende Phantasielandschaften. Ab 1987 nahm sie Unterricht an der Schule für darstellende Kunst „Die Etage“.
Der aufkommende Wunsch nach einem Häuschen mit Garten führte sie in den 1990er-Jahren nach Unterschweinbach. Ihre letzten 10 Lebensjahre verbrachte sie in Fürstenfeldbruck.

Renate Martin: Ein Ort, irgendwo

Ihre hier gezeigten Werke entstanden ab den 1990er-Jahren. Im Vordergrund zeigen sie Zerstörung und Verwüstung. Und dennoch lässt sich beinahe immer auch ein möglicher Unterschlupf finden – was den Bildern sogar etwas Tröstliches verleiht. Es liegt nahe, einen Bezug zu Renate Martins Biografie herzustellen, doch hatte sie das stets verneint.
Die Bilder strahlen eine gewisse Stille aus, eine Art Ruhe nach dem Sturm. Vielleicht liegt das auch daran, dass Renate Martin sie ausschließlich in Grautönen gemalt hat? Das erinnert an die Grissailletechnik mittelalterlicher Meister, die ihren Kunstwerken so eine enorme Tiefenwirkung und zugleich eine tiefe, meditative Ruhe verliehen haben.
In Renate Martins Werken lässt sich jedenfalls ein vermeintlich unmöglicher Dreiklang aus Zusammenbruch, Geborgenheit und Stille finden.

Mein Fazit: Unbedingt hingehen und in Ruhe die so unterschiedlichen Werke für sich entdecken und auf sich wirken lassen.
Die Ausstellung ist noch bis 6. Juni 2022 im
Haus 10 zu sehen.

Beiträge in der Presse:
Süddeutsche Zeitung vom 20.5.2022

 

 

 

 

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